9.11. Wyler

Ereignis und Erinnerung

Dr. Emanuel Wyler, AG "RNA-Biologie und Posttranskriptionale Regulation"

Es gibt den 9. November 1989 quasi zweimal: Der erste ist das tatsächliche historische Ereignis. Der zweite 9. November ist die Erinnerung daran und vor allem dessen Deutung in der Gegenwart.

Von 1989 habe ich, als damals Achtjähriger in der Schweiz, nur vage eine Bilderstrecke im wöchentlichen Magazin der Zürcher Tageszeitung „Tages-Anzeiger“ vor Augen, mit Schwarz-Weiß-Bildern aus Berlin vom 9. und 10. November. Als ich dann 22 Jahre später nach Berlin ging, zog ich in die Nachbarschaft eines Bekannten: Dieser Charité-Doktorand, aufgewachsen im Prenzlauer Berg und so alt wie ich, ging kurz darauf in die Schweiz. Obwohl er bei der Grenzöffnung ganz nahe dran war und seine Mutter zum Grenzübergang Bornholmer Straße „kurz mal gucken“ ging, war seine Erinnerung an den Abend ähnlich vage.

Lebhaftes Gedenken wird immer wichtiger

Während das historische Ereignis immer mehr im Nebel der Geschichte verschwindet, wird das Gedenken an den 9.11.1989 lebhafter und wichtiger, und auch, das macht dieses Datum heute so spannend, umstrittener. Vor fünf Jahren, bei einem Vierteljahrhundert Mauerfall, war es mit einem offiziellen Festakt und der Nachzeichnung der Mauer mit leuchtenden Ballons getan. Jetzt fällt das 30-jährige Jubiläum in eine heftige Diskussion über Ost und West, über den Umgang mit den „Ossis“, über die Erfolge der AfD in den ostdeutschen Bundesländern. Themen wie die Treuhand, die gering geschätzte Lebensleistung der ehemaligen DDR-Bürgerinnen und Bürger oder die ungleichen Lebensverhältnisse kristallisieren sich an diesem 9. November.

Eine große Forschungseinrichtung wie das MDC kann sich nicht vor gesellschaftlichen und politischen Debatten verschließen.
Portrait Dr. Emanuel Wyler
Emanuel Wyler AG Landthaler

Auch das MDC beschäftigt sich viel stärker mit der Erinnerung an den Mauerfall als 2014! Texte wie dieser, Videos, oder die Fotoausstellung in der Hannoverschen Str. 28 zeugen davon, wie wichtig die Erinnerung an dieses Datum geworden ist. Eine große Forschungseinrichtung wie das MDC kann sich nicht vor gesellschaftlichen und politischen Debatten verschließen. Der 9. November 1989 war ja auch für den Campus in Buch ein Wendepunkt, wurden doch kurz darauf drei Zentralinstitute der Akademie der Wissenschaften der DDR zum Max-Delbrück-Centrum zusammengefasst. Wenn also anlässlich des 9. Novembers über die Gestaltung der Gesellschaft von heute diskutiert wird, soll die Wissenschaft daran teilhaben.

Berlin – Ich bin mittendrin

Und was ist mein Teil als zugezogener Biologe in alldem? Wie gesagt: Beim historischen Datum war ich zu jung und zu weit weg. Bei der Erinnerung bin ich aber mitten drin. Prenzlauer Berg, wo ich wegen des eingangs erwähnten Doktoranden wohne, gilt als Bilderbuchbeispiel der Verdrängung alteingesessener „Ossis“ durch Zugezogene. Mein Arbeitsplatz im BIMSB-Gebäude steht auf dem Gelände der ehemaligen „Ständigen Vertretung“ der BRD in der DDR. Und ja, ohne den Mauerfall wäre ich jetzt wohl nicht in Berlin. Das West-Berlin der 1980er wirkt zumindest im Rückblick attraktiv; die Wiedervereinigung hat aber der Berliner Wissenschaft einen Schub und eine Dynamik verliehen, die diese Stadt nun zu einem logischen Ziel für einen Biologen auf der Suche nach Neuem macht.

 

© picture alliance / 360-Berlin / Jens Knappe